Das Buch der täglichen Lust

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27.06.2001 Das Buch der täglichen Lust ist zwar ein wunderschöner und verheißungsvoller Titel, aber noch ist nicht klar, ob dieses Projekt auch so einfach wie schön durchgeführt werden kann.
28.06.2001 Immer noch eine faszinierende Idee: Der regelmäßige Eintrag ins Tagebuch! Soll etwa dieser unterschwellige Zwang aufhören, der so beständig flüstert: Hast Du heute schon geschrieben? ... Ge...? ... Ge...? Ist sie heute bereits gelegen, Deine Hand, auf der grauhaarigen Matte vor der seit Jahrzehnten vernachlässigten Höhle? Brüllen sie, saugen sie gierig jetzt an Deinen Fingern? Nur Buchstaben?
29.06.2001 Was denkt eigentlich er, der sich aufrichtet, wenn er will, wenn's keiner fordert, und er, der sich verweigert, wenn alle nach ihm schreien, und was denken die, die schreien und dann den Kopf in den Sand stecken vor Scham und Feuchtigkeit, weil ihnen die Dinge in den Kopf wachsen wie hellauf lachende Schlingpflanzen ohne Anstand?
Ach, hätt' ich doch nicht geschrien!
30.06.2001 The Italian who went to Malta muß wieder auftauchen. Da bin ich mir sicher. Es wird wieder was zu lachen geben.
11.08.2001 ... die tägliche Lust! Was heißt das schon. Ravensburg, eine Stadt, in der nicht mit Wasser gekocht wird. Viel zu viele Tage sind verschwunden ohne Worte. Aber plötzlich gibt es Philadelphia, Pa.! Fällt herein wie ein silberner Vogel - like a silver bird -, kennt Harry Chapin und hat mich hoffentlich nicht angelogen.
Jetzt möchte ich nicht mehr darüber nachdenken, doch was bedeutet mir die tägliche Lust? Das nicht, auf jeden Fall: Lust ist Zeit und Zeit ist Geld und Geld ist Lust und Lust ist Zeit und Zeit ist ... Scheißdreck!
So einfach kehren sie bei uns nicht mal die Straßen!
21.08.2001 Der Namenstag meiner Tochter! It's my daughter's name-day! Anyway there is an elephant, the American dream elephant. A female elephant, her name, you know it, is Marie.
What else?
So ein Elephant kommt einfach rein, schaut Dich an, grüßt Dich, und Du bist gebannt, gefangen im Dunst seines Rüssels.
Keine Angst, wir sprechen hier nicht von Gestank, dem widerlichen, der angeblich aus menschlichen Körperöffnungen kommt, wir sprechen von Aura, von imaginärem Ambiente, das nichts zu tun hat mit einem in Hochglanzmagazinen propagierten Arrangement von Nichtigkeiten, deren Vorteil nur darin besteht, sich arrangieren zu lassen.
Der Rüssel bewegt sich, langsam, schwingend, nach vorne, nach hinten, zur Seite. Immer erweckt er den Eindruck, als suche er.
Immer fragt er.
"And now I've found that the world is round..."
Liebend gerne würde ich sie als Scheibe sehen, als beiseite gelegtes, riesiges, aber bröckelndes Elephantenohr, grau wie die Protokolle der Liebe.
Zu spät; einfach zu spät.
01.09.2001 Was machen Zigeuner auf einer Scheiben-Erde?
Das Dritte Reich nannte meine spanische Großmutter Zigeunerin, und das, obwohl General Franco mit Adolf, dem Tausendjährigen nicht gerade eine Intimfeindschaft verband. Doch die Gedankenwege der nationalistischen Vernunft sind gewunden wie die trotziger Kinder, denen rechthaberische Gummibänder den Blick in die finstere Wirklichkeit verdunkeln.
Auch auf einer Kugel sind die Straßen flach, und ein Zigeuner fährt mit dem Wagen.
Wohnwagen; wagen zu wohnen in einem Wagen, vague, eine sanfte Welle...
Zurück nach Philadelphia, Pa.!
Silver bird, kam herein wie Peter Pan. Ungezogenes Kind, kein Mann!
Ti voglio bene, Marie, ma non posso venire con te!
Maria elefante...
Sposati, sposati! Lasciate le putane...!
Krokodil und Breitmaulfrosch...
07.09.2001 Ein Wochenende beginnt. Ich beobachte den Wendekreis einer trunkenen Schmeißfliege. Die letzte ihrer Art und dieses Sommers zeichnet eine flimmernde Spirale in die zugige Luft meines goldenen Käfigs. Gitterstäbe glänzen gläsern; Alliterationen agieren abnorm; Neger nagen Nägel...
Kauen Weiße Tabak?
Wiederkehr...
Die Rückkehr der glorreichen sieben Buchstaben!
Die Vier Heiligen Drei Könige brechen auf.
Ein Spatz spuckt in meine Hand.
Keine Gnade.

11.09.2001 Die Welt wird sich verändern.
Nicht so, wie sie sich bisher verändert hat, so gemächlich, ohne Hektik, wandelnd unter den Arkaden der Zuversicht.
Rasen wird sie.
Die zwei Türme des World Trade Centers in Manhattan sind in sich zusammengestürzt; das Pentagon in Washington brennt, und das Auge des Terrors schwingt wie ein Pendel über den United States of America.
Und America schlägt zurück...
Im Freistaat Bayern hat das Schuljahr 2001/2002 begonnen.
Autofahrer nehmen Rücksicht auf ABC-Schützen.
Was macht Peter Pan?
Der Freund meiner Elefanten lässt die Jalousien herunter, irgendwann muß ein großer Junge schlafen, den Schlaf der Gerechten schlafen nur die Bösen und in America wird es einfach später Nacht.
Denn die Zeit ist über die ganze Welt verteilt.
Gerecht.
Gewaltig.
Und morgen auch.
15.09.2001 Ein Tag, an dem ich mir nur wünsche, ein kleines bißchen Glück zu haben...
America bereitet den großen Schlag ins Wasser vor, ich liebe die Schafe - nur die Schäfer sind Narren - , und wie immer spielt Geld keine Rolle.
Wo bleibt eigentlich mein Lotto-Gewinn?
Kommen muß er, sonst: "Gut' Nacht, schöne Bäu'rin!"
Wo ist Claus?
Seine Vorschlag war auch nicht schlecht. Hoffentlich macht sein sogenannter Schwiegervater mit. In diesen Zeiten ist ja nichts mehr sicher; nicht mal das Leben.
12.10.2001 Long time no see - long time no write!
Immerhin sitze ich jetzt in meiner Wohnung, ganz für mich allein. Keine Familie mehr.
Der Vorschlag von Claus hat sich erledigt. Heute ist er - nach einem Kurzbesuch im bfz - wieder heimgefahren; ich hoffe, ein bißchen Ruhe tut ihm gut und er kommt schnell wieder auf die Beine, die schweren.
Neben chinesischen Weisheiten haben nur die griechischen Bestand, ausgenommen die holledauer Weisheiten!
Aber nützlich sind sie alle:
"Am I not a man? And is not a man stupid? So I married! House, wife, children. The full catastrophe!"
Wohin soll das führen?
America bombardiert Afghanistan.
Was heißt das?
Ein Land wird dem Erdboden gleich gemacht oder ein Land muß aufhören zu existieren oder afghanische Menschen wird es nicht mehr geben oder ein weißer Fleck, ein unschuldiger, wird auf dem Globus langsam sich verbinden mit den umliegenden dunklen Flecken und irgendwann den Eindruck erwecken, als wär er gar nie hier gewesen, oder die Amerikaner hören einfach auf; wen töten sie?
Töten sie überhaupt?
Sie wollen's ja nicht.
Was tun sie denn?

13.10.2001 Christines Mail-Server hat endlich geschnallt, wo's lang geht. Lang genug hab ich rumprobiert. Na gut, eine weitere Möglichkeit für sie, mir ein Ultimatum zu stellen.
Für heute hör ich besser auf.

20.10.2001 Bruce Springsteen jault "This land is your land, this land is my land..."
Woody Guthrie wird er wohl nicht mehr getroffen haben, bevor der starb. Egal.
Zwei Jahre liegen hinter mir, zwei Jahre, die ich nicht missen möchte, in denen ich viel Erfahrung und Neues erlebte, dass ich mich heute, kurz vor meinem 49. Geburtstag, kaum traue, aus dem Haus zu gehen. Nur ein klitzekleiner Jahresschritt ist es noch, dann habe ich ein halbes Jahrhundert auf diesem Planeten verbracht und man sieht es ihm immer noch nicht an.
Herbert Achternbusch, der 12 Weißbier trank im Schneider-Weizen im Tal in München vor mehr als 20 Jahren, während ich - trunken vom Saft der jugendlichen Begeisterung über die revolutionäre Kultur, an der ich teilhaben durfte - unter seinen Stammtisch fiel, sagte schlicht: "Ich werde in Bayern leben so lange, bis man es diesem Land ansieht!"
Noch hat er's nicht geschafft.
Ich auch nicht.

24.10.2001 Manchmal fällt's schwer. So gerne würde ich schreiben, so gerne erzählen von meiner Lust und Freude, und doch bremst ein schwarzer Faden den ungehemmten Lauf. Giovane Elber hat ihn gerade.
"Si tu vois mon pays, mon pays malheureux, va dire a mes amis, que je me souviens d'eux!"
Ich bring einfach kein Wort mehr raus.
Ganz langsam. Keiner hetzt mich. Bilden Sie ein neues Array und füllen Sie es mit den Köstlichkeiten des untergehenden Abendlandes; der Untergang des Abendlandes in Anekdoten.
"Halt! Stop! Hans Duschke hat sich geirrt!"
Es gibt noch Weisheiten, die den griechischen, den chinesischen und sogar den holledauer Weisheiten das Wasser reichen können: die legendären maghrebinischen Weisheiten!
"Darfst Du in deine Tasche greifen, um Dich zu bedienen?"
"Natürlich!"
"Gut. Darfst Du in meine Tasche greifen, um Dich zu bedienen?"
"Natürlich nicht!"
"Auch gut. Darf ich in meine Tasche greifen, um mich zu bedienen?"
"Natürlich!"
"Gut. Wie sehr darf dann ich, der ich in meine Tasche greifen darf, auch in deine greifen, wo du doch nicht mal in meine greifen darfst?!!"
Ich sag's doch, nichts reicht heran an die Weisheit der Maghrebinier, außer - unter Einschränkungen - vielleicht die der Wolnzacher, aber derer gibt es leider nur noch der Wenigen welche.
Aber es gibt sie noch; die, die den Ruf begründeten.

27.10.2001Es ist 2 Uhr morgens. Soll ich noch was schreiben?
Sinnlos.
Der große schwarze Vogel vom Ludwig kommt auch schon, fliegt mit seinen sanften Flügeln, holt mich weg von hier.
Hinein fliegen wir, mitten in den Himmel, wir singen und wir lachen, wir schreien "Das gibt's nicht!", und die Wirklichkeit wird uns einfangen mit den gnadenlos zugreifenden Krallen der Einsicht.
Trotzdem: Für heute verabschieden wir uns.

30.10.2001This is for Claus! Not Santa Claus, no, for the best Claus we've ever met!
Er soll nach Teneriffa, und er will nicht fliegen. Stress sei das für ihn, und ich versteh das; auch ich mach mir in die Hose in so einem Flieger, wo Du drin sitzt und nichts tun kannst! Trotzdem, Claus, flieg!
Wenn Du in mein Auto steigst, ist das mindestens genau so gefährlich; Abflug und Landung gehen vielleicht nicht so auf den Magen, aber sonst...
Besser als sich an einen Strick zu hängen.
Besser.
Besser auf alle Fälle.

31.10.2001 Niemand glaubt es, sie sicher am wenigsten, doch ich bin wie verschwirbelt: Nichts - es ist halb Nacht - kann schöner sein als die letzten Stunden.
Schön wie extra gemacht.

04.11.2001 Verschwirbelt. Noch eins drauf.

17.11.2001War mit Claus und seinem netten "Clan" beim Griechen in Niederscheyern; war lustig, alles ungezwungen und total unkompliziert.
Nur der Grieche! Nicht Alexis Sorbas, nein, der "Grieche" in Niederscheyern, der war's, hat Erinnerungen geweckt, an früher, an die Zeit vor 30 Jahren, als wir uns jeden Freitag dort getroffen haben, die Leute aus meiner Klasse, auch aus der Parallelklasse, und selbst exotischere Gestalten kamen noch dazu! Ein Ritual mit Hoffnung auf Zukunft; Dick war dabei, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe und gern mal wieder sehen würde. Zuletzt bei Annettes Geburtstag, als ich noch Redakteur war und nach einer Versammlung des Rings Junger Hopfenpflanzer, die ich dienstlich besuchen mußte, zu später Stunde zur Feier stieß wie ein Aussätziger, den keiner der gewohnheitsmäßigen Sakkoträger dort anzutreffen erwartet hatte. Überraschung!
Ich bin aber auch nicht lange geblieben, nachdem ich ein paar Worte mit Dick gewechselt hatte. Genug der Worte angesichts der lebenden Hülsen erfolgreicher ehemaliger Mitschüler!
Die Macht des Erfolgs und die Macht des Geldes und die Macht der Macht, dieses Triumvirat hing ihnen als Zunge aus dem Mund wie eine rote Krawatte, schlecht gebunden, doch geschmackvoll arrangiert von begleitenden Frauen, deren einige mir nicht unbekannt waren. Ein schönes Geburtstagsfest!
Mit ins Grab nehmen wird mich manch gestreichelte Brust.

Jemand will sein Bett reinigen von meinen Düften, Zaubermittel werden gesucht, und Zaubermittel werden nicht gefunden, Zaubermittel gibt es nicht!
Gott sei Dank; wo kämen wir hin, wenn einer nur so über den Tisch wischen müßte, und alles wäre weg, die Vorstellung und sogar die Erinnerung an eine phantastisch zärtlich gedeckte Tafel?
Keine Antwort.


20.11.2001And now back to reality!
Weihnachtszwerge hat heute eine Frau im Supermarkt gekauft, eine Mischung aus Nikolaus und Gartenzwerg, Grundton nicht rot, sondern blau! Zwei Stück, damit der eine nicht so allein ist; genau so gut hätte sie ihm einen Spiegel hinstellen können.
Man könnte verrückt werden, doch keiner kommt, der's tut. Also bleibst du stehen und wartest weiter, bis sich wenigstens etwas ändert. Was klagst du? Es tut sich doch was: Nächstes Jahr fressen die blauen Weihnachtszwerge ihre Ruten und mit Frauchens und Herrchens Weihnachtsbaum fegen sie wie wild die Stube.
Neue Besen kehren zurück.
Und schlagen um sich wie verrückt.
18.12.2001 Oh Schande!
Schon wieder eine lange Zeit vergangen.
Und Weihnachten steht vor der Tür; wer kriegt das auf die Reihe, ich meine, wo kann man sich hinwenden, um diese Schlange, dieses Knäuel verwirrter Zeit zu entdröseln, eine klare Struktur reinzukriegen?
Niemand weiß das, nicht mal Rechnungen zum Jahresende bezahlen sich von selbst.
Wozu also sind die guten Hoffnungen da, wenn sie keine Purzelbäume schlagen und dem trägen Glück auf die Sprünge helfen?
Niemanden kümmert das.
Niemanden.

05.04.2002 Nicolai ist tot.
Heute war die Beisetzung in Moosburg. Ein Jahr jünger als Graziella; gestorben, weil er einem Hund das Leben aus der Amper retten wollte.
Zwei von ihm eingespielte Lieder, die Trauerfeier, dann, als Abschiedsgruß, Bob Dylan: "It's not dark yet, but it's getting there."






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